Stressbedingte Verspannungen – ein Ausflug in die Wissenschaft der Schutzreflexe

Wie es dazu kommt, dass wir uns unter Stress verspannen

In der Stress- und Traumaforschung ist weitgehend bekannt, dass das menschliche Zentralnervensystem unter Stress auch neuromuskuläre Reaktionen im Körper erzeugt, Stress und Traumata manifestieren sich also auch im Körpergedächtnis in Form von (chronischen) Verspannungen welche auch zu (psychosomatischen) Schmerzen führen können. So sind beispielsweise >90% aller Rückenschmerzen ohne Befund, das heißt es liegt keine den Schmerz verursachende Beschädigung der Struktur (wie z.B. ein Bandscheibenvorfall) vor. Hierbei greifen im menschlichen zentralen Nervensystem polysynaptische Schutzreflexe, welche über die Reflexzentren im Hirnstamm aktiviert und oft auch aufrechterhalten werden. Hierbei handelt es sich m.E. vor allem um den vestibulären Moro Reflex, der auch den Furcht-Lähmungs-Reflex beinhaltet (vgl. Sacher 2012). Leider wurde dies bisher weder von der therapeutischen Praxis, noch von der Embodimentforschung (Forschung zum Zusammenhang zwischen „Körper und Geist“) aufgegriffen und wahrscheinlich kennt die Schulmedizin deswegen bisher weder Ursache noch effektiv wirksame Lösungsansätze für die Therapie von chronischen Schmerzen wie beispielsweise Rückenschmerzen.

Dass die elementare Bedeutung polysynaptischer Schutzreflexe bisher nicht als (i.V.m. deren Auslösung durch Stress als wahre) Ursache zahlreicher psychosomatischer Beschwerden wie chronischer Schmerzen erkannt wurde ist durchaus erstaunlich. Denn „Im Gegensatz zu monosynaptischen (Eigenreflexe, hier wird der Reflex an dem Organ hervorgerufen, das zuvor gereizt wurde) Reflexen, welche vor etwa 350-300 Millionen Jahren bei Landtieren entstanden und zur Fortbewegung und Haltung notwendig wurden, sind polysynaptische Fremdreflexe (hier ist der Reflexort nicht der Ort, an dem der Auslöser sitzt) sehr viel älter (> 450 Millionen Jahre). Sie dienen im Wasser lebenden Tieren als Schutz- und Abwehrreaktionen und somit als Überlebensstrategie.

Polysynaptische Fremdreflexe sind also alte Abwehrmechanismen, die bis heute ihre Bedeutung nicht verloren haben. So vermuten zum Beispiel Sacher & Michaelis (2011), beruhend auf ihrer Erfahrung aus der ärztlichen Praxis, dass polysynaptische Reflexmuster bereits intrauterin (im Mutterleib) aktiv werden und damit der intrauterinen Haltungs- und Lagesicherung des Feten bei abrupten, unkontrollierbaren Bewegungen dienen (vgl. Sacher & Michaelis 2011, S. 13). Wahrscheinlich wird so – durch die gekrümmte Haltung – die Gefahr einer Wirbelsäulenfraktur, wie auch einer Quetschung der inneren Organe reduziert. Ebenso durchbrechen diese bei heftigen Schmerzreizen, bei plötzlichem, unerwarteten Berührtwerden, bei Dauerstress oder bei degenerativen Erkrankungen den späteren Überbau der zentralen motorischen Kontrollsysteme“ (Sacher und Michaelis 2011, S. 10).

Phase 1 des Moro Reflex – Entstehung des körperlichen Musters der Depression

In diesem Zusammenhang bedeutsam ist vor allem die Initialphase (erste Phase) des Moro Reflex (vgl. Illustration oben), welche – wenn sie zur Gewohnheit wird – zum körperlichen Muster der Depression führt (Stopp-Muster nach Thomas Hanna).

Diese besteht aus einem Anspannen der Beugermuskeln im Körper (Beugerzucken) und einem Anhalten des Atems, man könnte es auch als „Verharren in der Ausatmung“ bezeichnen. Die Phase 1 des Moro Reflex beinhaltet den so genannten Furchtlähmungsreflex und wird in der folgenden Illustration veranschaulicht.

Die beiden Wissenschaftler Wieser & Domanowsky (1959) schreiben hierzu:

„Die initiale Beugezuckung ist [also] durch eine auffallende Dominanz gekennzeichnet, sie erweist sich allen anderen spontanen und reflektorischen Reakten gegenüber als prävalent. Auf diese Eigenschaft der Beugereflexe hatte auch schon Sherrington hingewiesen, indem er betonte, dass sie entsprechend ihrer vitalen Bedeutung als Schutzreakte in der Konkurrenz um die gemeinsame Endstrecke stets die Oberhand behalten.“ (Unterstreichung durch den Autor)

Alltagsbeobachtungen bestätigen leicht und unwiderlegbar, wie typisch dieses initiale Beugezucken für Situationen ist, in welchen wir Angst empfinden oder uns subjektiv „in unserer Lage bedroht fühlen“ (Situationen von Distress). Daher stammen Redewendungen wie „mir stockt der Atem“, ich bekam vor Schreck keine Luft mehr“, ich bin vor Angst erstarrt“. Oft kommt dazu noch ein Blackout durch Prozesse kortikaler Hemmung (eine Art Blockade der für das Denken, Wahrnehmen und Handeln zuständigen Hirnstrukturen), wie zum Beispiel in Prüfungssituationen.

Ich nehme an, dass dieses initiale Beugerzucken (Phase 1 des Moro Reflex) auch die biopsychologische Basis des körperlichen Musters der Depression darstellt und – zusammen mit Phase 2 des Moro Reflex (vgl. unten) – auch der entscheidende Faktor bei der Entstehung vieler anderer Störungen wie chronischer Schmerzen, Problemen der inneren Organe usw. ist.

Phase 2 des Moro Reflex – Körperhaltung der inneren Auflehnung und der Selbstbehauptung mit innerem Widerstand

Phase 2 des Moro Reflex dahingegen findet ihren Ausdruck in einer Betonung der Streckermuskeln (Illustration links), einer Art „Verharren in der verstärkten Einatmung“. Das heißt, während beim Stopp-Muster Stress eher als Bedrohung („Distress“) interpretiert wird, interpretieren viele Start-Muster Stress eher als Herausforderung (Eustress), wenn auch oft mit innerem Widerstand, zum Beispiel weil es um die Übernahme von Fremdmotivation geht und nicht um selbst gewählte Ziele.

Zusammenfassung – Die Entwicklung des Gleichgewichtssinns in Phylogenese und Ontogenese, Orientierung von Struktur und Funktion des zentralen Nervensystems an der Schwerkraft

Es kann meiner Einschätzung nach davon ausgegangen werden, dass polysynaptische Schutzreflexe bei vielfältigen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen und vor allem bei chronischen Schmerzen wie Rückenschmerzen eine bisher von der Schulmedizin weitgehend unerkannte, wichtige Rolle spielen. Es wäre daher von unschätzbarem Gewinn für medizinische und psychologische Forschung, wenn sich die führenden „Gesundheits“-Forscher mehr Struktur und Funktion des zentralen Nervensystem zuwenden würden. Damit einhergehend ist es überfällig dessen Orientierung an der Schwerkraft sowie – wie von Smetacek vorgeschlagen – die evolutionsgeschichtliche Entwicklung des Gleichgewichtssinns (vestibulären Systems) in unterschiedlichen Etappen in Phylogenese und Ontogenese zu untersuchen.

Literatur:

Wieser, St. & Domanowsky, K. (1959) Das Schreckverhalten des Säuglings. Arch. Psychiat. Nervenkr. 198, S. 257–266.

Smetacek, V. (2002) mind-grasping gravity. Nature Vol. 415, 31, S. 481.

Anm.: Leider hat der von Smetacek bereits 2002 veröffentliche Nature Artikel es bisher auf gerade 11 auf google scholar registrierte Zitationen geschafft. (Notiz vom 20. März 2017)

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